Samstag, 26. Oktober 2013

Unverhoffte Winterwanderung nach Lü

Mitte Oktober habe ich Freunde bei mir in Scuol zu Besuch gehabt. Sie wollten wandern - Richtung Süden; den Sonnenhang oberhalb von Ftan, Scuol und Sent kannten sie schon. Nur Pech, dass es am Wochenende vorher geschneit hatte, und zwar richtig viel! Nach Süden (alles Nordhänge) lag der Schnee auf allen Wegen, und alle Täler münden in einen Pass über 2000 m Höhe. Gut, die Wanderung war bestellt, und ich erkundigte mich vorsichtshalber mal beim Tourismusbüro, welche Wege denn überhaupt gangbar seien. Ich wählte den leichtesten, die Wanderung von S'Charl nach Lü im Münstertal. Der Pass ist in einer sanften Steigung zu bewältigen und nur 2250 m hoch. Es seien ihn auch schon Leute gegangen, hiess es im Tourismusbüro, also machbar.

Am Morgen um 08.37 nahmen wir das Postauto nach S'charl. Das wilde S'Charltal entlang, mit einem Chauffeur, der sich über die Touristen freute und alle Sehenswürdigkeiten auf dem Weg erklärte. In S'Charl gab es dann erst mal einen Kaffee (auf dem ganzen Weg nach Lü, 13 km, gemäss Beschreibung 4 Stunden - mit Schnee hiess es, 5 Stunden, gibt es im Spätherbst keine Einkehrmöglichkeit).



S'Charl, auf ca. 1800 m Höhe gelegen, ist ein beliebtes Ausflugsziel, besonders im Herbst, wenn die Lärchen sich golden färben. Von dort aus geht es auf einer breiten Naturstrasse (wird im Sommer auch von Kutschen befahren) hinauf zur Alp Astras. Dabei kommt man am Arvenwald von Tamangur vorbei (klingt doch wie im Märchen!). Er ist der grösste und höchst gelegene zusammenhängende Arvenwald von Europa.



Die Arve ist ein einheimischer Baum, dessen Holz unbeschreiblich gut duftet. Die Klosterfrauen von Sta Maria im Münstertal haben vor Jahrhunderten herausgefunden, dass die ätherischen Öle der Arve gesundheitsfördernd sind: Arvenduft beruhigt das Herz und beugt Erkältungen vor, also das Richtige für gestresste Unterländer. Die Apotheke in Scuol verkauft Arvenessenz als Raumduft, der Bioladen selbst gemachte Arvensalbe (herrlich!). Im Wald von Tamangur wächst die Arve bis auf 2400 m Höhe; die älstesten Bäume sind bis zu 700 Jahre alt - ein echtes Naturwunder.


Links im Foto sieht man den Wald von Tamangur, vor uns die Alp Astras, eine riesige Alpfläche, natürlich um diese Jahreszeit längst verlassen. Bis zur Alp Astras war der Weg gut begehbar.


Die Alp liegt auf 1934 m Höhe. Jetzt nur noch ca. 300 m sanfter Aufstieg dem Bach entlang bis zur Passhöhe "Costainas", dachten wir.


Das Foto lässt erahnen, was uns erwartete: Hinter der Alp Astras war der Weg tief verschneit - das heisst, von einem Weg konnte keine Rede mehr sein. Es gab einen Wegweiser und tiefe Fussstapfen, die ca. 50 cm in den Schnee eingesunken waren. Aber wir lassen uns ja nicht lumpen - auf ging's, von Fussstapfen zu Fussstapfen, jeder knietief. Ohne hohe Schuhe und Wanderstöcke wär's aussichtslos gewesen.



Was soll's! Nach ca. 5 km Tiefschnee-Stampfen erwartete uns hinter der Passhöhe ein wunderbarer Blick ins Münstertal (Val Mustair). Wir waren so fertig, dass wir klammheimlich den Zaun zu einer Jagdhütte überkletterten und uns der Länge nach auf die Holzbänke legten um eine Runde zu schlafen. Gerade rechtzeitig, bevor die Besitzer eintrafen (den Salat und das Brot hatten sie schon in den Eingang zur Hütte gestellt) machten wir uns aus dem Staub!



Der Abstieg führt zuerst einige hundert Meter steil auf einem Fahrsträsschen hinunter, dann stetig leicht abschüssig nach Lü (ca. 1900 m). In Lü gibt's ein Restaurant und ein Postauto, das einen hinunter ins Tal bringt. Dort einmal umsteigen und dann auf der herrlichen Route durch den Nationalpark über den Ofenpass hinunter nach Zernez. Dort kann man direkt in die Rhätische Bahn umsteigen, die einen dann nach Scuol bringt. Diese Wanderung mache ich sicher nochmal (ist eigentlich ganz leicht und nicht anstrengend), aber nicht mehr im Tiefschnee!


Sonntag, 13. Oktober 2013

Das Tal der röhrenden Hirsche

Im schönen, warmen, noch sommerhaften September sind meine Scuoler Freundin und ich am Morgen um 8.37 (Haltestelle Scuol Hotel Belvedère) mit dem Postauto ins Val Mingèr gefahren. Von dort aus gibt es eine wunderschöne und leichte, aber lange Wanderung um den Bergstock des Piz Pisoc herum durch den Nationalpark hinauf zur Fuorcla (Passhöhe) und dann hinunter ins Val Plavna.



Bereits wenige Schritte nach der Postautohaltestelle beginnt der Nationalpark. Man steigt langsam bergan durch einen verwunschenen Zauberwald, in dem man Feen und Elfen vermuten könnte. Dichtes Unterholz, grüne, mit Kräutern und Pilzen bewachsene Böden, Lichtungen, Waldwege, auf denen sich die Wurzeln wie urtümliche Kriechreptilien dahinschlängeln.



Langsam geht es talaufwärts, gut zwei Stunden lang, bis man den Rastplatz erreicht. Und die ganze Zeit ist man umgeben von Röhren der brünftigen Hirsche. Jeden Moment meint man, einen sehen zu können. Auf dem Rastplatz stehen Gruppen von Wanderern, mit Fernglas und Teleobjektiv bewaffnet, und haben den Eindruck, die Hirsche hätten nur auf sie gewartet. Nee, aber sicher nicht, wenn man erst nach 08.00 Uhr morgens aufbricht! Wer Hirsche beobachten will, muss vor der ersten Morgendämmerung los! Dann sind sie auf den Lichtungen und äsen. Die Schlafmützen sehen keine mehr, denn die Tiere haben sich gegen 11.00 Uhr längst unter die Bäume zurückgezogen.


Na ja, wenn man keinen Hirsch findet, macht man sich halt selbst dazu. Die Utensilien findet man auf dem Weg zur Passhöhe - einen Baum mit zwei Ästen, die man als Geweih drapieren kann. Na ja, ist halt kein 12-ender...


Auf der Passhöhe dann der Blick auf die eindrücklichen Berge des Val Plavna. Schmal und abschüssig geht es hinunter ins Tal. Die Alphütte war schon geschlossen, dafür war eine Jagdgesellschaft dort. Wir sassen am Nebentisch und hörten dem Jägerlatein zu. Anscheinend hat doch einer eine Kuh geschossen! Künstlerpech!


Das Val Plavna ist über weite Strecken eine Steinwüste, der Bach sucht sich unterirdisch seinen Weg. Deswegen haben wir die Wanderung auch nicht im Sommer gemacht; es werde im Tal unerträglich heiss. Sind wir hier wirklich in der Schweiz, oder doch in Kanada?


Nach ca. 4 Stunden angenehmer, leichter Wanderung durch's Val Plavna steigt man ab nach Tarasp mit seinem schönen Schloss. Von dort aus geht's mit dem Postauto urück nach Scuol. Achtung, keine Verpflegungsmöglichkeit bis Tarasp! Essen und vor allem Getränke mitnehmen; es gibt keine Brunnen auf dem Weg.